NGO-Beteiligung in umweltbezogenen Verfahren

Urteil des EuGH in der Rechtssache C-664/15

Das Ausgangsverfahren

Gegenstand des Ausgangsverfahrens ist die wasserrechtliche Bewilligung einer Beschneiungsanlage am Aichelberg in der Katastralgemeinde Karlstift (Bezirk Gmünd, Bundesland Niederösterreich, Projektwerberin: Aichelberglifte Karlstift GmbH). Diese Projektbewilligung stützt sich auch auf eine naturschutzbehördliche Bewilligung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit erging.

 

Das Projektgebiet liegt in einem Important Bird Area und Natura 2000-Vogelschutzgebiet (SPA „Waldviertel“, AT1201000) das zum Schutz lärm- und störungsempfindlicher Vogelarten (mehrere Eulen, Spechte, Raufußhühner, Schwarzstorch etc.) ausgewiesen wurde. Für das Aichelberggebiet wurde im Jahr 2000 nach zweijährigen Untersuchungen festgestellt, dass es sich um ein besonderes Refugium für Waldvogelgemeinschaften, insbesondere für spezialisierte Altholz- und Totholzbewohner handelt, dass in den Hochlagen um Karlstift naturnahe Waldgesellschaften im Vergleich zu anderen Gebieten noch flächiger und vernetzt erhalten sind, dass ein gutes Höhlenangebot gegeben ist und die Schutzgüter hohe Siedlungsdichten aufweisen.

 

Des Weiteren liegt das Projekt in einem Feuchtgebiet von internationaler Bedeutung, in einem Wildtier-Migrationskorridor von internationaler Bedeutung, im Grünen Band Europas und im Lebensraum des einzigen außeralpin reproduzierenden Luchsvorkommens Österreichs. Vom Projekt ist ebenso ein benachbartes FFH-Gebiet (AT1201A00) betroffen, das unter anderem zum Schutz mehrerer vom Aussterben bedrohter Fließgewässerbewohner verordnet wurde.

 

Innerhalb dieses für zahlreiche Arten wertvollen und unersetzlichen Gebiets vergab die Behörde im Jahr 2000 eine befristete wasserrechtliche Genehmigung für eine Beschneiungsanlage, die dann – im bis dahin hergestellten erweiterten Ausbauzustand – im November 2013 erneut bewilligt wurde.

Abb. 1: Der Einsiedelbach im Jahr 2012.
Abb. 1: Der Einsiedelbach im Jahr 2012.

Folgen der technischen Beschneiung

Avifaunistische Erhebungen im Auftrag von Protect und BirdLife Österreich im Jahr 2013 ergaben, dass sämtliche lärm- und störungsempfindlichen Vogelarten des Vogelschutzgebiets im weiten Umkreis um die Beschneiungsanlage nicht mehr oder nur noch in sehr geringer Dichte nachweisbar waren. Bald nach Inbetriebnahme der Anlage verschwand neben den zahlreichen Vogelarten auch der nach geltendem Recht streng zu schützende Luchs aus dem Gebiet.

 

Unter anderem durch Erosion der überbeanspruchten Skipiste wurden der darunter gelegene Einsiedelbach und die Lainsitz (FFH-Gebiet) übersandet. In übersandeten Fließgewässern erlischt großteils das Leben durch Ersticken des Nachwuchses, Beschädigung der Laichplätze, Reduzierung des Nahrungsangebots etc. Schwer beeinträchtigt werden so die Nahrungshabitate geschützter Vögel sowie die empfindlichen, im Gebiet geschützten Gewässerbewohner, wie beispielsweise die in Österreich vom Aussterben bedrohte Flussperlmuschel, die im Zeitraum des Betriebs der Beschneiungsanlage im Mutterbett der Lainsitz erloschen ist.

Abb. 2: Das übersandete Flussbett der Lainsitz im Gemeindegebiet von St. Martin im Dezember 2015.
Abb. 2: Das übersandete Flussbett der Lainsitz im Gemeindegebiet von St. Martin im Dezember 2015.

Schließlich führt auch die Wasserentnahme selbst zu ökologischen Schäden. Der Einsiedelbach hat einen mittleren Abfluss von lediglich 9 l/s (Abflussmenge, die, gemittelt über zehn Jahre, durchschnittlich während 347 Tagen des Jahres erreicht wird).

 

Gerade im Winter, wenn das Wasser für eine künstliche Beschneiung benötigt wird, steht aufgrund der tiefen Temperaturen noch weniger Wasser zur Verfügung, so dass der Abfluss bereits ohne Wasserentnahmen bis auf 3 l/s sinkt (niedrigster bekannter Abfluss). Je geringer die Abflussmenge, desto geringer ist der verbleibende Gewässerlebensraum und um so schneller friert das Gewässer.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass wenige Meter nach der Wasserentnahme die 2005 eröffnete Kläranlage in den Einsiedelbach einleitet

Abb. 3: Der Einsiedelbach im Januar 2014 etwa 400 m unterhalb der Wasser­entnahmestelle für die technische Beschneiung.
Abb. 3: Der Einsiedelbach im Januar 2014 etwa 400 m unterhalb der Wasser­entnahmestelle für die technische Beschneiung.

Die schwerwiegenden Folgen von künstlicher Beschneiung und Übersandung von Fließgewässern auf die höchst gefährdeten, teilweise vom Aussterben bedrohten Arten sind auch in zahlreichen internationalen Studien bereits seit vielen Jahren immer wieder belegt worden.

 

Aus Sicht der NGO Protect sind die nachteiligen Umweltauswirkungen des Projektes – im Sinne der Vogelschutz-, FFH- und Wasserrahmen-Richtlinie und der zugehörigen Judikatur des EuGH – als äußerst gravierend einzustufen. Protect hat sich daher im Verfahren gegen die erneute Bewilligung der technischen Beschneiung ausgesprochen.

 

Ziel war und ist es, auf diesem Weg die Versagung der Bewilligung zu erreichen und damit so rasch wie möglich die Zerstörung und erhebliche Schädigung von Lebensräumen und Arten – zumal innerhalb von rechtskräftig verordneten Schutzgebieten – zu beenden.

 

Mangels Umsetzung des Übereinkommens von Århus in Österreich im Wasser- und Naturschutzrecht und der daher fehlenden Rechtsgrundlage für eine Verfahrensbeteiligung von NGOs erklärten die Bezirkshauptmannschaft Gmünd und das Landesverwaltungsgericht die Einwendungen der NGO Protect für unzulässig.

 

Das fachlich und rechtlich substantiierte Vorbringen von Protect, das auch zwangsläufig Zweifel an der Richtigkeit des naturschutzfachlichen Gutachtens wecken musste, wurde in beiden Instanzen auch nicht von Amts wegen geprüft.

 

Im Rahmen der von Protect eingebrachten außerordentlichen Revision richtete der österreichische Verwaltungsgerichtshof das gegenständliche Vorabentscheidungsersuchen an den Europäischen Gerichtshof.

Das Übereinkommen von Århus – Ziele und Anwendung

Das Übereinkommen von Århus regelt den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten. Das Übereinkommen wurde 1998 ...

  • „in Bekräftigung der Notwendigkeit, den Zustand der Umwelt zu schützen, zu erhalten und zu verbessern und eine nachhaltige und umweltverträgliche Entwicklung zu gewährleisten“,
  • „in der Erkenntnis, daß ein angemessener Schutz der Umwelt für das menschliche Wohlbefinden und die Ausübung grundlegender Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, unabdingbar ist
  • und „in der Erkenntnis, daß jeder Mensch das Recht hat, in einer seiner Gesundheit und seinem Wohlbefinden zuträglichen Umwelt zu leben, und daß er sowohl als Einzelperson als auch in Gemeinschaft mit anderen die Pflicht hat, die Umwelt zum Wohle gegenwärtiger und künftiger Generationen zu schützen und zu verbessern

… unterzeichnet und von Österreich am 17. Januar 2005 ratifiziert (BGBl. III Nr. 88/2005, veröffentlicht in United Nations Treaty Series, Vol. 2297, p. 272).

 

Jede Vertragspartei – und somit auch Österreich – hat sicherzustellen, „daß Personen, die ihre Rechte im Einklang mit diesem Übereinkommen ausüben, hierfür nicht in irgendeiner Weise bestraft, verfolgt oder belästigt werden.“.

 

Das Ziel von Art. 9 Abs. 3 des Übereinkommens von Århus ist die Gewährleistung eines effektiven Umweltschutzes durch den Zugang zu Gerichten. Dabei sollen die Verfahrensmodalitäten den Schutz der durch das Unionsrecht erwachsenden Rechte – hier das Recht der NGOs, die die Interessen der Öffentlichkeit in Umweltbelangen wahrnehmen, die Einhaltung des EU-Umweltrechts und damit auch der Bestimmungen der Wasserrahmenrichtlinie notfalls gerichtlich durchzusetzen – in jedem Einzelfall gewährleisten.

 

Die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte darf weder praktisch unmöglich gemacht noch übermäßig erschwert werden. Es ist ein weiter Zugang zu Gericht zu gewähren. Gemäß Art. 9 Abs. 4 des Übereinkommens sind diese Verfahren fair, gerecht, zügig und nicht übermäßig teuer zu gestalten. Die betroffene Öffentlichkeit darf gegenüber den anderen Verfahrensparteien nicht benachteiligt werden.

 

Die nun vorliegende Entscheidung des EuGH in der Rechtssache C-664/15 ist für die Durchsetzung des geltenden Umwelt- und Naturschutzrechts österreichweit und europaweit von großer Bedeutung und reiht sich in die Urteile des Gerichtshofs in den Rechtssachen C-240/09, C-115/09, C-137/14 und C-243/15 ein, die alle – in unterschiedlichen Umwelt- und Naturschutzbereichen – den NGOs ein Klagerecht entsprechend dem Übereinkommen von Århus zusprechen.

 

Die NGOs haben eine Wächterfunktion und verteidigen ein hoch zu bewertendes öffentliches Interesse am Schutz der Umwelt und der Natur in all ihren natürlichen Facetten. Es ist aber nicht die Aufgabe der Umweltorganisationen, die Arbeit der Behörden zu übernehmen.

 

Bislang genehmigen die Behörden vielfach – ungeachtet bekannter erheblich negativer Auswirkungen auf die Umwelt und auf Basis tatsachenferner Gutachten – die von Projektwerbern eingereichten Vorhaben, was für eine weitere Verschlechterung der bereits unzureichenden bis schlechten Erhaltungszustände bei den Lebensräumen und Arten sorgt.

 

Das Urteil darf nicht davon ablenken, dass es die Aufgabe des Staates und seiner Behörden ist und bleibt, in Bewilligungsverfahren vollständig, sorgsam und objektiv zu ermitteln, einwandfreie Verfahren durchzuführen und für die uneingeschränkte Anwendung geltenden Rechts – vom völkerrechtlich bindenden Übereinkommen über die biologische Vielfalt bis hin zum zwingend anzuwendenden Unionsrecht wie Vogelschutzrichtlinie, FFH-Richtlinie oder Wasserrahmenrichtlinie – zu sorgen sowie die normierten Ziele aus den Übereinkommen und Richtlinien zu erreichen.

Die Entwicklung der Biodiversität

Die Vielfalt des Lebens, kurz Biodiversität oder biologische Vielfalt, ist die Voraussetzung für eine Existenz auf der Erde – auch für die des Menschen.

 

Bereits in der ersten Fassung der Vogelschutzrichtlinie aus dem Jahr 1979 wurde festgestellt: „Bei vielen im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten wildlebenden Vogelarten ist ein Rückgang der Bestände festzustellen, der in bestimmten Fällen sehr rasch von statten geht. Dieser Rückgang bildet eine ernsthafte Gefahr für die Erhaltung der natürlichen Umwelt, da durch diese Entwicklung insbesondere das biologische Gleichgewicht bedroht wird.“.

 

Bei der Formulierung der FFH-Richtlinie im Jahr 1992 stellte der Richtliniengeber zusätzlich fest: „Der Zustand der natürlichen Lebensräume im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten verschlechtert sich unaufhörlich. Die verschiedenen Arten wildlebender Tiere und Pflanzen sind in zunehmender Zahl ernst­lich bedroht. Die bedrohten Lebensräume und Arten sind Teil des Naturerbes der Gemeinschaft, und die Bedrohung, der sie ausgesetzt sind, ist oft grenzübergreifend; daher sind zu ihrer Erhaltung Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene erforderlich.“.

 

Ähnliche Feststellungen finden sich in zahlreichen weiteren internationalen Regelwerken, wie beispielsweise dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt, das Österreich am 18. August 1994 ratifizierte, wobei der Beschluss des Nationalrats ausdrücklich die Erfüllung dieses Staatsvertrags umfasst (BGBl. Nr. 213/1995).

 

Das Übereinkommen über die biologische Vielfalt stellt zweifelsfrei fest, dass „es von lebenswichtiger Bedeutung ist, die Ursachen der erheblichen Verringerung der biologischen Vielfalt oder des erheblichen Verlusts an biologischer Vielfalt an ihrem Ursprung vorherzusehen, zu verhüten und zu bekämpfen“. Es wurde unter anderem ...

  • „im Bewußtsein der Bedeutung der biologischen Vielfalt für die Evolution und für die Bewahrung der lebenserhaltenden Systeme der Biosphäre,
  • „in Bestätigung dessen, daß die Erhaltung der biologischen Vielfalt ein gemeinsames Anliegen der Menschheit ist“
  • und „in Bekräftigung dessen, daß die Staaten für die Erhaltung ihrer biologischen Vielfalt sowie für die nachhaltige Nutzung ihrer biologischen Ressourcen verantwortlich sind“,

… verfasst und umfasst die Artenvielfalt, die genetische Vielfalt innerhalb einzelner Arten sowie die Vielfalt der Ökosysteme.

 

Ungeachtet der seit langem bekannten Gefahren, die sich aus der Zerstörung der Ökosysteme sowie der Vernichtung der Arten und deren Habitate ergeben, setzte bei der Bewilligungspraxis bislang kein Umdenken ein.

 

Hieraus resultieren fortwährend schwere Biodiversitätsschäden: So musste INGER et al. (2015) feststellen, dass in Europa zwischen 1980 und 2009 – also in dem Zeitraum, in dem die EU-Mitgliedsstaaten die Vogelschutzrichtlinie jedenfalls anzuwenden hatten – die Zahl der Vögel, über die bereits 1979 festgestellten Bestandsrückgänge hinaus, um 421 Millionen Individuen weiter zurück gegangen ist. Der Common farmland bird indicator für Europa stellt einen Bestandsrückgang im Zeitraum 1980-2015 von 55 % fest (EUROPEAN BIRD CENSUS COUNCIL 2017).

 

„Highlights“ in Österreich – hier wird nur ein Zeitraum von 18 Jahren (1998 bis 2016) untersucht – sind beispielsweise Bestandsrückgänge beim Girlitz von 81 %, beim Rebhuhn von 82 % oder bei der Grauammer von 90 % (TEUFELBAUER & SEAMAN 2017).

 

Im Living Planet Report (OERLEMANS et al. 2016) wird festgestellt, dass zwischen 1970 und 2010 weltweit mehr als die Hälfte der Wirbeltierpopulationen (Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien und Reptilien) verschwunden sind.

 

VAN SWAAY et al. (2013) mussten für den Zeitraum 1990 bis 2011 feststellen, dass in der EU die Schmetterlingspopulationen – untersucht werden Grasland-Arten – um rund 50 % gesunken sind, wofür primär der dramatische Verlust der Grünland-Biodiversität verantwortlich ist.

 

Langzeiterhebungen in Deutschland (BUNDESAMT FÜR NATURSCHUTZ 2017) zur Arten- und Individuenzahl der Insekten belegen eine erschreckende Negativentwicklung: „Selbst in Naturschutzgebieten macht dieser Trend nicht Halt. Dort konnte im Rahmen verschiedener Studien eine Abnahme der Insektenbiomasse um 80 % festgestellt werden (SORG 2013; SCHWENNINGER & SCHEUCHL 2016). Im Rahmen einer Untersuchung zu den Schwebfliegen wurden beispielsweise von 1989 bis 2014 Rückgänge der Artenzahlen zwischen 30 % und 70 % gemessen, die Individuenverluste lagen sogar zwischen 70 % und 96 % (SSYMANK, unveröff.).“.

 

Die EUROPEAN ENVIRONMENT AGENCY (2015) stellt zum Thema „Terrestrische Artenvielfalt und Süßwasser-Artenvielfalt“ unmissverständlich fest:

  • „Entwicklungen der letzten 5 bis 10 Jahre: Hoher Anteil geschützter Arten und Lebensräume in ungünstigem Zustand.“
  • „Ausblick für 20+ Jahre: Es ist keine positive Änderung bei den Ursachen für den Biodiversitätsverlust erkennbar. Politische Maßnahmen müssen vollständig umgesetzt werden, um Verbesserungen zu erzielen.“.

 

EU-weit konnte für nicht einmal ein Viertel (23 %) der über 1.200 Arten der FFH-Richtlinie ein günstiger Erhaltungszustand festgestellt werden (Europäische Kommission 2015). Noch schlechter sieht es in Österreich aus: In der alpinen biogeografischen Region befinden sich lediglich 18 % der FFH-Arten in einem günstigen Erhaltungszustand, in der kontinentalen Region sogar nur 13 % (UMWELTBUNDESAMT 2013).

Abb. 4: Erhaltungszustände der FFH-Lebensraumtypen in der kontinentalen biogeografischen Region Österreichs für den Bewertungszeitraum 2007-2012: grün = günstig, orange = unzureichend, rot = schlecht, grau = unbekannt [Daten aus UMWELTBUNDESAMT 2013].
Abb. 4: Erhaltungszustände der FFH-Lebensraumtypen in der kontinentalen biogeografischen Region Österreichs für den Bewertungszeitraum 2007-2012: grün = günstig, orange = unzureichend, rot = schlecht, grau = unbekannt [Daten aus UMWELTBUNDESAMT 2013].

Besonders dramatisch ist der Erhaltungszustand der FFH-Lebensraumtypen in Österreich: Für die im Verfahren relevante kontinentale biogeografische Region Österreichs konnte der günstige Erhaltungszustand nur mehr für 3 % (!) der Lebensraumtypen festgestellt werden (siehe Abb. 4, Um­welt­bundesamt 2013).

 

ROCKSTRÖM et al. (2009) haben ermittelt, dass der bereits hervorgerufene Verlust der Biodiversität die größte Gefahr für ein Leben auf der Erde darstellt – noch weit vor den Gefahren, die sich aus dem Klimawandel ergeben.

Dabei kommt erschwerend hinzu, dass der Artenschwund erheblich verzögert auf die Lebensraumvernichtungen folgt: Die heute vorgenommenen Habitatzerstörungen werden erst in Jahren oder Jahrzehnten zusätzliche Biodiversitätsverluste bewirken – oder umgekehrt: der Verlust an Artenvielfalt, den wir heute feststellen, hat seine Ursache in Habitatzerstörungen, die bereits vor Jahren erfolgt sind (siehe beispielsweise TILMAN et al. 1994, DULLINGER et al. 2013, HYLANDER & EHRLÉN 2013, ESSL et al. 2015a und 2015b).

 

Die massiven Eingriffe in natürliche oder naturnahe Habitate in den letzten Jahren, mit denen selbst die wenigen verbliebenen Rückzugsgebiete angegriffen werden, werden erst noch wirksam und damit die Artenvielfalt weiter zurückgehen, die Individuenzahlen weiter sinken und Populationsvernetzungen in noch größerem Maße unterbunden.

 

BARNOSKY et al. (2011) kommen durch ihre Forschungen zu dem Schluss, dass ein Massenaussterben bereits begonnen hat. Dieses kann nur aufgehalten werden, wenn umgehend die Lebensraumzerstörungen wieder rückgängig gemacht und die weiteren Bedrohungen für die Arten unterbunden werden – was im Einklang mit den Wiederherstellungsverpflichtungen der Natura 2000-Richtlinien steht.

 

Im November 2017 haben 15.373 Wissenschaftler aus 184 Staaten – aus Österreich unter anderem Franz Essl, Stefan Dullinger, Manfred A. Fischer, Thomas Wrbka, Konrad Fiedler – in BioScience den dringenden Appell „World Scientists’ Warning to Humanity“ veröffentlicht (RIPPLE et al. 2017) und stellen dabei fest, dass es für die notwendigen Veränderungen eine breite Welle öffentlichen Drucks auf die Politik benötigt.

 

Es ist die Pflicht der Politik und der EU-Kommission, umgehend für die Einhaltung der Übereinkommen und Richtlinien vor dem Hintergrund der normierten Ziele zu sorgen, was eine weitere Verschlechterung der Umwelt jedenfalls ausschließt und zu Wiederherstellungsmaßnahmen verpflichtet.

Quellen

BARNOSKY, A. D., MATZKE, N., TOMIYA, S., WOGAN, G. O. U., SWARTZ, B., QUENTAL, T. B., MARSHALL, C., MCGUIRE, J. L., LINDSEY, E. L., MAGUIRE, K. C., MERSEY, B. & FERRER, E. A. (2011): Has the Earth’s sixth mass extinction already arrived?, in: Nature, Vol. 471, Issue 7336, März 2011, pp. 51-57.

 

Bundesamt für Naturschutz (Hrsg., 2017): Agrar-Report 2017 – Biologische Vielfalt in der Agrarlandschaft, Juni 2017, 68 S.

 

DULLINGER, S., ESSL, F., RABITSCH, W., ERB, K.-H., GINGRICH, S., HABERL, H., HÜLBER, K., JAROŠÍK, V., KRAUSMANN, F., KÜHN, I., PERGL, J., PYŠEK, P. & HULME, P. E. (2013): Europe’s other debt crisis caused by the long legacy of future extinctions, in: PNAS, Vol. 110, Issue 18, April 2013, pp. 7342-7347.

 

ESSL, F., DULLINGER, S., RABITSCH, W., HULME, P. E., PYŠEK, P., WILSON, J. R. U., RICHARDSON, D. M. (2015a): Delayed biodiversity change: no time to waste, in: Ecology & Evolution, Vol. 30, Issue 7, July 2015, pp. 375-378.

 

ESSL, F., DULLINGER, S., RABITSCH, W., HULME, P. E., PYŠEK, P., WILSON, J. R. U., RICHARDSON, D. M. (2015b): Historical legacies accumulate to shape future biodiversity in an era of rapid global change, in: Diversity and Distributions, Vol. 21, May 2015, pp. 534-547.

 

European Bird Census Council (2017): European Common farmland bird indicator, EBCC, BirdLife, RSPB & CSO, URL: https://www.ebcc.info/wpimages/Common%20Farmland%20Bird%20Indicator_2017%20update.jpg.

 

European Environment Agency (2015): Die Umwelt in Europa – Zustand und Ausblick 2015, Synthesebericht, 208 S.

 

Europäischer Gerichtshof (2011a): Urteil vom 08. März 2011 in der Rechtssache C-240/09 Lesoochranárske zoskupenie VLK gegen Ministerstvo životného prostredia Slovenskej republiky.


Europäischer Gerichtshof (2011b): Urteil vom 12. Mai 2011 in der Rechtssache C-115/09 Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Landesverband Nordrhein Westfalen e. V. gegen Bezirksregierung Arnsberg.


Europäischer Gerichtshof (2015): Urteil vom 15. Oktober 2015 in der Rechtssache C-137/14 Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland.


Europäischer Gerichtshof (2016): Urteil vom 08. November 2016 in der Rechtssache C-243/15 Lesoochranárske zoskupenie VLK gegen Obvodný úrad Trenčín.

 

Europäischer Gerichtshof (2017): Urteil vom 20. Dezember 2017 in der Rechtssache C‑664/15  Protect ▪ Natur-, Arten- und Landschaftsschutz gegen Bezirkshauptmannschaft Gmünd.

 

Europäische Kommission (2015): The State of Nature in the EU, 40 S.

 

HYLANDER, K. & EHRLÉN, J. (2013): The mechanisms causing extinction debts, in: Ecology & Evolution, Vol. 28, Issue 6, June 2013, pp. 341–346.

 

INGER, R., GREGORY, R., DUFFY, J. P., STOTT, I., VOŘÍŠEK, P. & GASTON, K. J. (2015): Common European birds are declining rapidly while less abundant species' numbers are rising, in: Ecology Letters, Vol. 18, Issue 1, Jan. 2015, pp. 28-36.

 

OERLEMANS, N. et al. (2016): Living Planet Report 2016, WWF International, Zoological Society of London, Stockholm Resilience Centre, Global Footprint Network, Stockholm Environment Institute & Metabolic, 145 pp.

 

RIPPLE, W. J., WOLF, C., NEWSOME, T. M., GALETTI, M., ALAMGIR, M., CRIST, E., MAHMOUD, M. I., LAURANCE, W. F. et al. (2017): World Scientists’ Warning to Humanity: A Second Notice, in: BioScience, Online: 13. Nov. 2017, Print: Vol. 67, Issue 12, December 2017, DOI: 10.1093/biosci/bix125.

 

ROCKSTRÖM, J., STEFFEN, W., NOONE, K., PERSSON, Å., CHAPIN III, F. S., LAMBIN, E., LENTON, T. M., SCHEFFER, M., FOLKE, C., SCHELLNHUBER, H., NYKVIST, B., DE WIT, C. A., HUGHES, T., VAN DER LEEUW, S., RODHE, H., SÖRLIN, S., SNYDER, P. K., COSTANZA, R., SVEDIN, U., FALKENMARK, M., KARLBERG, L., CORELL, R. W., FABRY, V. J., HANSEN, J., WALKER, B., LIVERMAN, D., RICHARDSON, K., CRUTZEN, P. & FOLEY, J. (2009): Planetary boundaries:exploring the safe operating space for humanity, in: Ecology and Society, Vol. 14, Issue 2, 32 pp.

 

TEUFELBAUER, N. & SEAMAN, B. (2017): Farmland Bird Index 2016, BirdLife Österreich im Auftrag des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft (BMLFUW-LE.1.3.7/23-ll/1/2015), März 2017, 14 S.

 

TILMAN, D., MAY, R. M., LEHMAN, C. L. & NOWAK, M. A. (1994): Habitat destruction and the extinction debt, in: Nature, Vol. 371, Sept. 1994, pp. 65-66.

 

Umweltbundesamt (2013): Österreichischer Bericht gemäß Artikel 17 FFH-Richtlinie für den Berichtszeitraum 2007–2012, Zusammenfassung, im Auftrag des Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt- und Wasserwirtschaft für die österreichischen Bundesländer, Dezember 2013, 31 S.

 

VAN SWAAY, C., VAN STRIEN, A., HARPKE, A., FONTAINE, B., STEFANESCU, C., ROY, D., MAES, D., KÜHN, E., ÕUNAP, E., REGAN, E., ŠVITRA, G., PROKOFEV, I., HELIÖLÄ, J., SETTELE, J., PETTERSSON, L., BOTHAM, M., MUSCHE, M., TITEUX, N., CORNISH, N., LEOPOLD, P., JULLIARD, R., VEROVNIK, R., ÖBERG, S., POPOV, S., COLLINS, S., GOLOSHCHAPOVA, S., ROTH, T., BRERETON, T. & WARREN, M. (2013): The European Grassland Butterfly Indicator 1990-2011, European Environment Agency, EEA Technical report No 11/2013, 36 pp.

Übereinkommen und Richtlinien

FFH-Richtlinie: Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen, veröffentlicht im ABl. Nr. L 206 vom 22. Juli 1992 [zuletzt geändert durch Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013, veröffentlicht im ABl. Nr. L 158 vom 10. Juni 2013 und berichtigt durch ABl. L 95 vom 29. März 2014].

 

Vogelschutzrichtlinie: Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, veröffentlicht im ABl. Nr. L 103 vom 25. April 1979 [seit 15. Februar 2010 ist die kodifizierte Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten, veröffentlicht im ABl. Nr. L 20 vom 26. Januar 2010 in Kraft, zuletzt geändert durch Richtlinie 2013/17/EU des Rates vom 13. Mai 2013, veröffentlicht im ABl. Nr. L 158 vom 10. Juni 2013].

 

Übereinkommen über die biologische Vielfalt: Convention on Biological Diversity (CBD), unterzeichnet am 05. Juni 1992, in Kraft getreten am 29. Dezember 1993, von Österreich unterzeichnet am 13. Juni 1992 und ratifiziert am 18. August 1994, in Kraft seit 16. November 1994 (BGBl. Nr. 213/1995)

 

Übereinkommen von Århus: Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten vom 25. Juni 1998, United Nations Treaty Series, Vol. 2161, in Kraft getreten am 30. Oktober 2001, von Österreich ratifiziert 17. Januar 2005 (BGBl. III Nr. 88/2005).

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